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Ein Schildkrötenritt zur Verbundenheit

Vor einigen Wochen war ich unterwegs auf einer Tagung. Als ich zurück nach Hause kam und zum ersten Mal wieder an meinem Schreibtisch saß, zeigte sich nach einer Weile auch meine Schildkröte, kam langsam auf mich zu und blickte mich neugierig an. „Wo bist du gewesen?“, fragte sie.

„Ich war in Kassel auf der Jahrestagung der Milton H. Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose“, antwortete ich. „Es ging diesmal um das Thema Hypnotherapie bei Angst, Phobie und Panik, der Titel der Tagung war ‚Out of Fear‘. Ich habe viele interessante Vorträge gehört und anregende Gespräche geführt, und dann habe ich mit einer Kollegin auch einen Workshop mit einer hypnotischen Trance angeboten. Und weißt du was: In dem ging es sogar um eine Schildkröte!“ erzählte ich ihr augenzwinkernd.

Ich merkte meiner Schildkröte an ihrer Körperhaltung an, dass ich ihr Interesse geweckt hatte. „Was hat denn dein Workshop mit Schildkröten zu tun? Um welche Schildkröte geht es denn überhaupt, etwa um mich? Oder hast du andere Schildkröten mit nach Kassel genommen?“, stellte sie mir gleich drei Fragen hintereinander, was für meine sonst eher wortkarge Schildkröte schon fast einem kleinen Redeschwall nahekam.

 

Die riesige Riesenschildkröte

„Nein, liebe Schildkröte, es ging nicht um dich, sondern um eine sehr große Artgenossin von dir – eine, auf der Menschen sogar reiten können.“

„Reiten?“ Ich sah, wie die Schildkröte zusammenzuckte, und hörte, dass sie ein wenig empört war. „Ihr Menschen reitet auf Schildkröten? Muss das sein?“

„Von der Größe mancher sogenannter Riesenschildkröten her würde das wohl theoretisch gehen“, antwortete ich lachend. „In Nordamerika glauben viele indigene Völker sogar, dass ihre ‚Turtle‘, wie die Schildkröte dort genannt wird, die ganze Welt auf ihrem Panzer getragen hat. Sie wird als Urmutter von ‚Turtle Island‘ gesehen. Das ist der Name der indigenen Völker für die Großmutter Erde, die die Welten über Jahrtausende hinweg beschützt hat.“ Meine Schildkröte schüttelte unmerklich staunend den Kopf.

„Aber“, fuhr ich fort, „das ist nur eine überlieferte Legende. Und die Schildkröte, die ich mir für meine hypnotische Trance ausgedacht habe – sie ist sogar noch riesiger als jede wirklich lebende Riesenschildkröte – ist nur ein Phantasiebild, das es den Menschen in der Trance leichter macht. Denn ihr Schildkröten habt für uns seherische Fähigkeiten, und ihr strahlt so viel Ruhe, Sicherheit, Weisheit und Vertrauenswürdigkeit aus, dass wir Menschen uns dadurch leichter auf eine Reise ins Unbekannte locken lassen. Aber in Wirklichkeit reitet kein Mensch auf Schildkröten“, beruhigte ich sie.

Das versöhnte meine Schildkröte offensichtlich wieder etwas, und ihre Körperhaltung entspannte sich. Dann verharrte sie einen Moment ganz still und regungslos in offensichtlich tiefem Nachdenken, bevor sie den Kopf wieder hob und mich fixierte: „Magst du mir mehr von der Reise ins Unbekannte erzählen? Und was ist überhaupt so eine hypnotische Trance?“

 

Der Weg der Schönheit

„Trancen sind eine wunderbare Möglichkeit für Menschen, sich auf eine Reise zu ihrem Inneren zu begeben. Sie helfen ihnen, einen tiefen Zustand der Entspannung zu finden“, erklärte ich. „Mit Hilfe der Hypnose wird ein veränderter Bewusstseinszustand, eben die sogenannte hypnotische Trance erzielt.“

„Und wie kann ich mir so einen Bewusstseinszustand vorstellen?“, fragte die Schildkröte, die mir aufmerksam zugehört hatte.

„Nun, Menschen, die eine Hypnose zum ersten Mal erleben, bezeichnen dies häufig als einen Zustand wie kurz vor dem Einschlafen. Der Körper kommt zur Ruhe, die Umwelt tritt zurück und die Aufmerksamkeit ist auf die ‚innere Realität‘ gerichtet.“

„Ich verstehe! Und in so einer inneren Realität kann man dann also auch auf Schildkröten reiten“, brummte die Schildkröte, immer noch etwas verwundert.

„Genau“, stimmte ich lächelnd zu. „Mit Hypnose arbeite ich sehr viel, und so habe ich auf der Tagung eben auch eine angeboten. Wir haben damit begonnen, dass wir die Teilnehmer zunächst in ‚Hozho‘ eingeführt haben. Den Begriff kann man gar nicht mit einem Wort übersetzen, er hat fünf Bedeutungsebenen, mit denen für die Navajo in Nordamerika ein gesamter Sinnkontext für ein gutes Leben entsteht. Und gut bedeutet für die Navajo: ein gesundes Leben in Würde und Schönheit.“

„Ein Leben in Würde und Schönheit – das gefällt mir ...“, sagte die Schildkröte ganz leise.

„Es geht darin“, fuhr ich fort, „um die Verantwortung für Wahrheit, Schönheit, Harmonie, Balance – und ‚Spirit‘, ein Begriff, der schwer zu übersetzen ist. Für die Navajo ist der Spirit überall, das gesamte Universum ist in ihren Augen belebt und mit ihm gefüllt. Bäume, Gräser und Blumen sind ebenso wie ihr Vierbeiner, die Schwimmer der Meere, die Vögel oder die Schildkröten beseelt, sie sind unsere Geistesverwandten. Auch Steine und Gebirge beherbergen den Geist der Urahnen und damit die Erinnerung an die Weisheit der Menschen, auf deren Schultern wir alle seit Tausenden von Jahren stehen.“

 „Und was hat dieses Hozho mit dem Tagungsthema ‚Out of Fear‘ zu tun?“, fragte die Schildkröte.

„Weißt du, liebe Schildkröte, viele Menschen haben Angst. Weil sie sich überfordert fühlen durch die Aufgaben, die ihnen auferlegt sind, durch die Konkurrenz mit anderen Menschen, die vielleicht in irgendetwas besser sind als sie, sie haben Angst, dass sie nicht mehr mithalten können. Zudem passieren ständig beängstigende Dinge um die Menschen herum, an denen sie wenig oder nichts verändern können, zum Beispiel Krieg oder Klimawandel. Die Menschen fühlen sich wie ein Spielball auf den Wogen des Lebens und fühlen eine große Ohnmacht.“

Meine Schildkröte nickte und meinte: „Es tut mir leid, dass Ihr Menschen solche Lasten tragen müsst. Und was ist nun der Zusammenhang zu Hozho?“

„Die Idee hinter Hozho“, sagte ich, „ist ein Leben in Balance. Wenn wir Menschen aus der herausfallen, entstehen Störungen, zum Beispiel Angst vorm Leben oder vor bestimmten Situationen, Depressionen oder Verhaltensprobleme. Aber wir können diese Balance wiederherstellen, und dazu weist Hozho den Weg. Das ist ein traditioneller Weg, auf die Weise, wie Naturvölker menschliche Krisen angehen, nicht so symptomorientiert wie wir im Westen, die wir auf das Symptom Angst schauen und überlegen, wie wir aus ihr herauskommen. Diese Ausrichtung auf die Balance stellt den Unterschied dar zu unserer westlichen Medizin, die immer Störungen beseitigen will.“

Ich machte eine Pause, aber die Schildkröte sagte nichts, sondern schien auf mehr zu warten, also kam ich wieder auf meine Veranstaltung zurück.

„Dann habe ich ein Gebet der Navajo vorgetragen, es heißt ‚Walk in beauty‘, und der dort thematisierte Weg der Schönheit ist genau das, was die Navajos mit Hozho bezeichnen. Der Weg der Schönheit ist ein Weg in Balance, und diese Balance können wir über einen zeremoniellen Weg über Rituale wiederherstellen, nicht reflektiv im Alltagsbewusstsein, wie wir das normalerweise tun würden. Auch eine hypnotische Trance kann so ein Ritual sein. So können wir außerhalb unseres normalen Lebens Erfahrungen machen, die uns helfen, unangenehme Gefühle ausdrücken zu können und Belastungen loszuwerden. Wir sind dadurch wieder in der Lage, aufzutanken, uns zu nähren und zu stärken mit dem, was wir brauchen, um den Weg der Schönheit wiederzufinden.“

„Dieser Weg der Schönheit“, murmelte die Schildkröte, „ist wohl euer menschliches Bild für den Weg, den wir Schildkröten seit jeher gehen. Jetzt verstehe ich, warum eine Schildkröte in deiner Zeremonie einen Platz hatte ...“

Ich nickte und fuhr fort in meiner Beschreibung der Zeremonie: „Nachdem wir unseren Raum mit Salbei geräuchert und den Teilnehmer*innen eine rituelle Reinigung ermöglicht hatten, fing die eigentliche Zeremonie an. Wir waren im Kreis versammelt, meine Partnerin und ich öffneten den Raum mit Trommelschlag und Gesang zur Tranceinduktion, und danach konnten sich alle auf die vorbereiteten Matten und Decken legen, und die eigentliche Hypnose konnte beginnen.“

„Ah, jetzt kommt die große Schildkröte“, bemerkte meine Hausgenossin gespannt.

  

Ein tiefer Frieden

„Zunächst einmal“, erzählte ich, „fanden sich die Teilnehmer*innen im dämmrigem Licht einer Landschaft wieder, die ihnen unbekannt war. Hier war es trocken und sandig. Und dort ganz in der Nähe stand die riesige Schildkröte. Sie lud lächelnd ein, auf ihrem Rücken Platz zu nehmen, auf ihr zu reiten und mit ihr zu reisen – im Schildkrötentempo, Schritt ... für Schritt ... für Schritt ...“

Die Schildkröte nickte, als würde sie dieses Tempo gut kennen.

„Irgendwann näherte sich die Schildkröte einem Ziel, einer Art Versammlung, da waren noch andere Menschen und ein kleines Feuer. Von weitem war Musik zu hören, leise Trommelrhythmen ... Im dämmrigen Licht saß eine Gruppe von Menschen am Feuer, und die Schildkröte lud ein, dort bei ihnen Platz zu nehmen, ein Gefühl von Vertrautheit und Verbindung zu spüren, eine uralte Verbindung mit den Menschen, den Ahnen, und mit ihnen Kontakt aufzunehmen und darin einen Schatz zu finden, den man für immer mitnehmen kann.“

Die Augen der Schildkröte waren noch immer geschlossen, sie war völlig bewegungslos.

„An dieser Stelle“, fügte ich leiser hinzu, „lief ich durch den Raum an den Teilnehmer*innen vorbei und sang zur Vertiefung ein hebräisches Ein-Wort-Lied. Nach und nach wurde es dann wieder Zeit, sich von dem Erlebten zu lösen, von den Menschen und dem Platz am Feuer, und die Teilnehmer*innen konnten sich von diesem Ort verabschieden mit der tiefen Gewissheit, dass sie geliebt und verbunden sind ... Die große Schildkröte wartete schon und lud ein, wieder auf ihrem Rücken Platz zu nehmen und sie wieder zurückzubringen, Schritt für Schritt ...für Schritt ... für Schritt ... Und dann holten wir die Teilnehmer*innen langsam wieder aus ihrer Trance zurück.“

Meine Schildkröte öffnete wieder ihre Augen, und dann fragte sie mich: „Wie kann diese Trance nun die Angst der Menschen lindern?“

„Die Trance schenkt ihnen die Verbindung mit sich selbst, das ist eine Ganzkörper-Erfahrung, die alle Sinne umspannt, ein tiefer Frieden tritt ein, eine Ruhe, alles fällt von einem ab. Es entsteht eine innere Klarheit, die einfach sagt, ich bin da, so ist es richtig. Die Menschen haben so viele Fragen ans Leben, und in Trance hört das alles auf, es ist wie eine zeitlose Ewigkeit, ein Augenblick, in dem die Welt stillsteht und zugleich weitergeht, sich öffnet in einen riesigen Kosmos, indem man sich aber nicht verloren, sondern verbunden fühlt, und ganz ohne Angst.“

Ich stand auf, ging auf meine Schildkröte zu und kniete mich vor sie. „Im Rahmen einer solchen Trance ist es sogar möglich, auf einer Schildkröte zu reiten. Das ist ein Bild dafür, dass wir eben nicht alles alleine machen müssen und auch nicht können. Wenn wir uns manchmal klein und orientierungslos fühlen, ist es gut, wenn es solche Helfer gibt. Diese Zeremonie ist ein wenig so etwas wie die Übersetzung der alten Legende, dass die Schildkröte die ganze Erde trägt. Wir spüren, dass wir von der Schildkröte getragen sind, so wie die Welt von ihr getragen wird. Wir spüren, dass wir uns dieser Welt anvertrauen können.“

Die Schildkröte schwieg lange und schien über all das, was ich ihr erzählt hatte, nachzudenken. Und dann meinte sie: „Ich finde es schön, dass wir Schildkröten eure Sehnsucht nach Ruhe und Weisheit verkörpern. Dass wir euch auf diese Art helfen können, den Weg der Schönheit zu gehen und damit zu euch und zur Verbundenheit mit allem zu finden und eure Balance zurück zu gewinnen. Dass ihr in der Welt mehr zu Hause sein könnt und weniger Angst habt. Dafür geht es auch in Ordnung, dass ihr euch vorstellt, auf unseren Rücken zu reiten ...“

Nach dieser langen Rede schwieg die Schildkröte, zwinkerte mir zum Abschied noch einmal zu und trottete gemächlich wieder aus meinem Zimmer.

(Eine Hörprobe der Trance „Schildkrötenritt“ finden Sie hier. Und wenn Sie sie hören wollen, können Sie hier mit einen Download anfragen.)