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Nimm dir die Zeit, die du brauchst

Meine erste bewusste Begegnung mit einer Schildkröte hatte ich mit Michael Endes Jugendbuch „Momo“. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das außerhalb eines Dorfes lebt. Momo bemerkt, dass die Menschen aus dem Dorf keine Zeit mehr finden, sie wie sonst zu besuchen, um ihr ihre Geschichten zu erzählen. Bei ihren Nachforschungen trifft sie die Schildkröte Kassiopeia, die als eine gemütliche Vertreterin ihres Geschlechts die Ruhe weg hat. Kassiopeia zeigt ihr den Weg zu „Meister Hora“, dem Hüter der Zeit, und gemeinsam geben sie den Menschen nach vielen Abenteuern zurück, was ihnen finstere Mächte gestohlen hatten.
Ich fand die Geschichte bereits beim ersten Lesen mit 15 faszinierend, vor allem, weil Kassiopeia mit ihrer Langsamkeit so ganz anders war als ich und damit an meine Grenzen rührte, doch zugleich einen Schlüssel für die Lösung meiner Probleme bereithielt.
Denn ich war zwar mit einer schnellen Auffassungsgabe versehen, dadurch aber auch häufig ungeduldig und ungerecht in der Beurteilung langsamerer Menschen in meiner Umgebung. Langsamkeit erschien mir negativ - und meiner Meinung nach hätten die Menschen in der Welt viel mehr Wichtiges viel schneller bewegen können. Mir war einfach noch nicht klar, dass ich als junger, zielstrebiger Mensch häufig mit automatisierten Denkschemata arbeitete. Damit war ich zwar schnell unterwegs, aber eben nicht auf dem Weg, eine komplexe Welt mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen.
An Kassiopeia erinnerte ich mich später wieder, als mir in der Phase meines stressigen beruflichen Aufbaus eine Postkarte mit hebräischen Schriftzeichen in die Hände fiel. Darüber die Zeichnung einer Schildkröte, die auf mich den Eindruck machte, dass sie mir etwas Wichtiges sagen wollte.
Ich verstehe zwar kein Hebräisch und konnte deshalb nicht lesen, was dort stand, fühlte mich aber sofort wieder an Momo und Kassiopeia erinnert. Also legte ich die Karte zunächst als Lesezeichen in meinen Kalender und beschloss, bei allem beruflichen Aufbau-Ehrgeiz das Zuviel meiner Arbeitsstunden im Blick zu behalten.
Manchmal schien die Schildkröte lebendig zu werden und mir etwas sagen zu wollen. Aber ich wusste ja, dass Schildkröten auf Postkarten nicht sprechen können, und so hörte ich ihr nicht zu. Diese hier schien allerdings tatsächlich eine Ausnahme mit dem Sprechen zu machen. Immer mal wieder hörte ich sie leise vor sich hin murmeln. Wahrscheinlich war ihr klar, dass ich die Schriftzeichen nicht lesen konnte. Bei einer weiteren Gelegenheit, bei der ich ihr Bild etwas ruhiger betrachtete, flüsterte sie mir sehr deutlich zu: „Nimm dir die Zeit, die du brauchst.“
Ich hörte für die folgenden Jahre erfolgreich weg und arbeitete ehrgeizig weiter. Dennoch erreichte ihre Botschaft damals schon einen kleinen Winkel meines Geistes. Und ich fühlte bei jedem Blick auf die Postkarte: Sie hat Recht! Mir so viel Zeit zu nehmen, wie ich brauchte, das war genau das, was ich nicht tat.
Ab da begegnete sie mir überall auf der Welt und schärfte meinen Blick für ihre Botschaft.