Zum Hauptinhalt springen

Von Siestas, Winterschlaf und Zeit für mich selbst

In den letzten Monaten stand ich mal wieder – wie so oft zwischen Oktober und Weihnachten, und wie wahrscheinlich die meisten von uns – total unter Strom, fühlte mich gestresst und sehnte mich nach einer Ruhepause.

Im November ging ich deshalb auf die Suche nach meiner Schildkröte, die ich seit einiger Zeit nicht gesehen hatte, um mit ihr wie so oft zu plauschen – die Gespräche tun mir immer gut, sie beruhigen mich und lassen die manchmal so kompliziert erscheinende Welt wieder viel einfacher und besser zu bewältigen erscheinen.

Als ich sie in ihrer Lieblingsecke suchte, in die sie sich oft zurückzieht, fand ich sie nicht. Von einer Ahnung getrieben, ging ich hinunter in den kühlen Keller, wo ich auf die Tür zu einem Raum stieß, auf der ein Zettel mit der in etwas krakeliger Schrift geschriebenen Information hing: „Bitte nicht stören! Ich halte Winterschlaf-Siesta von Oktober bis März. Eine gute Zeit, deine Schildkröte.“

Oh je, das mit dem Winterschlaf hatte ich bei all der Anspannung tatsächlich vergessen, obwohl ich es doch aus den früheren Jahren schon kannte. Wie schade, dachte ich, nun konnte ich gar nicht mir ihr reden. Und ich war spontan auch ein wenig neidisch auf sie, die sich in einer Phase, in der wir Menschen genervt durchs Leben hetzten, einfach die Zeit für eine Ruhepause nahm, nach der ich doch auch so lechzte. Wie gerne hätte ich mit ihr über den Winterschlaf, über Siestas und mehr Zeit für mich selbst gesprochen.

Doch da kam mir eine Idee: Ich begann mir das Gespräch mit der Schildkröte, Winterschlaf hin oder her, einfach vorzustellen. Schließlich kenne ich sie ja schon etliche Jahre und habe sie und ihre Art zu fragen und zu antworten gut in meinem Kopf.

Also führte ich in meinem Kopf mit ihr ein imaginäres Gespräch über Auszeiten, das eigentlich ein Selbstgespräch war – und irgendwie auch wieder keines ...

 

Immer schneller

Ich erzählte der Schildkröte von dem Stress der vergangenen Wochen, den sie wegen ihres Winterschlafes ja nie mitbekam, und wie ich selbst merkte, dass ich mich mal wieder in meinem bekannten Muster verfangen hatte: Ich fange unter Stress häufig an, noch mehr auf die Tube zu drücken, weil ich ja irgendwie alles schaffen will, was auf meiner Agenda steht, und dann fühle ich auch gar nicht mehr so viel von mir selbst, sondern erledige einfach meine Aufgaben, wie in einem Tunnel, ohne nach rechts und links zu schauen, und vor allem: ohne Pause.

Ich stellte mir vor, wie sich die Schildkröte das mit unergründlichem Blick und einem leichten Kopfschütteln angehört und mich dann einfach gefragt hätte: „Aber warum tust du das nur?“

„Weil ich ständig das Gefühl habe, dass die Zeit zu knapp ist für all das, was ich zu tun habe, und ich deswegen versuche, das durch immer größere Schnelligkeit auszugleichen“, antwortete ich, und ich wusste schon beim Vorstellen, sie würde darauf noch verständnisloser nachfragen: „Die Zeit zu knapp? Was ist denn das für eine merkwürdige Idee? Du hast doch alle Zeit der Welt.“

Ich antwortete ihr, dass ich das zwar manchmal auch so fühle, aber mir dann oft dessen doch nicht so sicher bin, weil ich ja nicht weiß, wie viel Lebenszeit ich noch vor mir habe, und weil ich ja berufliche und soziale Verpflichtungen, die nun mal Zeit kosten, nicht einfach ignorieren kann.

Und dann fiel mir ein, was mir eine Freundin erzählt hatte. Die war nämlich, erzählte ich der Schildkröte, von Rückenschmerzen geplagt, die einfach nicht mehr weggehen wollten, als sie ihre Masterarbeit schrieb. Der Grund waren wohl die viel zu vielen Stunden ununterbrochener, angespannter Arbeit am Schreibtisch. Deswegen war sie zu einer Osteopathin gegangen, und die empfahl ihr, sie solle eine Stunde am Tag spazieren gehen, ganz egal, was sie sonst eigentlich alles noch tun müsste.

„Und bei diesen Spaziergängen“, berichtete ich weiter, „hatte sie die Geschichte von Momo gehört. Erinnerst du dich, liebe Schildkröte? Von diesem Buch habe ich dir schon einmal erzählt.“ Die Schildkröte, wie ich sie vor meinem inneren Auge sah, würde bestimmt nicken und zurückfragen: „Ist das nicht das Buch, in dem auch eine Schildkröte vorkommt?“

„Ja,“ nickte ich, „das war meine erste bewusste Begegnung mit einer Schildkröte. Im Buch geht es um das Mädchen Momo, das außerhalb eines Dorfes lebt. Momo bemerkt, dass die Menschen aus dem Dorf keine Zeit mehr finden, sie wie sonst zu besuchen, um ihr ihre Geschichten zu erzählen. Bei ihren Nachforschungen trifft sie die Schildkröte Kassiopeia, die ihr den Weg zu ‚Meister Hora‘ zeigt, dem Hüter der Zeit. Gemeinsam geben sie den Menschen nach vielen Abenteuern die Zeit zurück, die ihnen finstere Mächte gestohlen hatten.“

Die Schildkröte in meinem Kopf fragte nach: „Zeit stehlen? Wie soll das funktionieren?“

 

Gesparte Zeit – gestohlene Zeit

„Das“, erklärte ich, „ist das Werk der sogenannten ‚Grauen Herren‘, die den Menschen als Agenten einer ‚Zeitsparkasse‘ erzählen, wie viel Zeit sie sparen könnten, wenn sie vermeintlich nutzlose Tätigkeiten aus ihrem Leben streichen würden. Das Zeitsparen soll, so behaupten sie, sogar gut verzinst werden.

Die Menschen lassen sich also von ihnen überreden, Zeitsparer zu werden: Sie arbeiten schneller als vorher, hetzen durch den Tag und gönnen sich weder Pausen noch Vergnügen. Selbst in ihrer Freizeit kommen sie nicht zur Ruhe. Doch leider haben sie danach trotz eifrigen Zeitsparens nur immer weniger Zeit. Denn in Wahrheit sind die grauen Herren Betrüger und stehlen den Menschen ihre Zeit.“

„Auf so eine hinterhältige Idee könnt auch nur Ihr Menschen kommen“, brummte die Schildkröte in mir tadelnd.  

„Na ja“, versuchte ich sie innerlich zu besänftigen, „die Geschichte ist ja nur erfunden, diese Grauen Herren hat es so nie gegeben. Wahr ist aber an der Geschichte, dass wir Menschen tatsächlich immer glauben, wir könnten, wenn wir jetzt durch Schnelligkeit und vollgepackte Terminkalender Zeit einsparen, später dadurch einmal mehr Zeit zur Verfügung haben – ob nun am Abend, oder am Wochenende, oder irgendwann künftig einmal in unserem Leben.

Meiner Freundin jedenfalls war, als sie diese Geschichte von Momo und den Grauen Herren auf ihren Spaziergängen gehört hatte, erst so richtig aufgegangen, wie sie sich durch diese Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, mit der sie sich in ihre Arbeit verbissen hatte, betrogen und Zeit gestohlen hatte, von der keinesfalls klar war, ob sie sie jemals zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zur Verfügung haben würde. Und sie wusste, dass nicht nur sie sich so verhielt, sondern auch ganz viele Menschen um sie herum, die sie kannte.“

Die Schildkröte in meinem Kopf wurde nun etwas lauter – jedenfalls für die Verhältnisse einer Schildkröte: „Ihr Menschen haltet euch doch immer für so schlau! Und da glaubt ihr wirklich so einen Blödsinn? Das mit dem Zeitsparen kann einfach nicht funktionieren, das ist doch offensichtlich!“

„Ja, vielleicht glauben wir es gar nicht wirklich, wenn wir in Ruhe darüber nachdenken“, sagte ich. „Aber vor lauter Hektik kommen wir viel zu wenig zum Nachdenken und tappen immer wieder in dieselbe Falle. Auch ich als Psychologin, die das doch eigentlich sofort durchschauen müsste, verfalle immer wieder in dieses Muster.“

„Und was erwartest du jetzt von mir?“, knurrte die Schildkröte, immer noch ein wenig unwillig.

 

Siesta-Zeit

Ich dachte an die Pause, in der sie sich ja eigentlich befand, und sagte zu ihr: „Wenn ich immer sehe, dass du jedes Jahr für mehrere Monate in den Winterschlaf gehst, dann frage ich mich, ob uns Menschen so etwas nicht auch gut guttäte. Es muss ja kein monatelanger Schlaf sein, aber zumindest eine etwas ruhigere Zeit, in der wir alle mal einen Gang runterschalten können. So wie die Siesta, von der du ja selbst auf deinem Zettel schreibst. Woher kennst du das Wort überhaupt?“

„Jemand hat mir einmal davon erzählt“, entgegnete die Schildkröte stolz und begann fast schon ein wenig zu dozieren: „Die Menschen in Spanien nennen so ihre mehrstündige Pause, die sie tagsüber zwischen Mittagessen und dem späten Nachmittag einlegen. Das kommt von der großen Hitze am Mittag im Sommer, wird aber genauso auch im Winter praktiziert. Mir scheint das für euch Menschen ungewöhnlich vernünftig.“

„Ich staune einmal mehr, was du alles weißt, liebe Schildkröte“, sagte ich anerkennend. „Ja, die Idee der Siesta finde ich auch sehr schön. Obwohl ich gelesen habe, dass sie in der Praxis längst an Bedeutung verliert, weil immer mehr Arbeitgeber nach zentraleuropäischem oder amerikanischem Vorbild nur noch eine halbe Stunde Mittagspause gewähren.

Es muss ja aber auch gar nicht genau wie bei der Siesta so eine feste tägliche Zeit sein, zumal wir in Deutschland ja – zumindest bisher – gar nicht diese Hitze wie in Südeuropa haben. Aber wenigstens ab und zu mal eine kleine Siesta, die uns zwischendurch aus den Tagespflichten befreit, das hätte schon etwas.

Oder eben so eine Art Siesta-Zeit, in der wir nicht unbedingt Urlaub machen, aber es dennoch alle gemeinsam etwas ruhiger angehen lassen. Das ist ja auch genau das Bild, das durch Werbung und durch unsere Erwartungen von der angeblich so besinnlichen Adventszeit erzeugt wird, während diese Wochen tatsächlich durch Last-Minute-Projekte, Geschenkeinkäufe, Festvorbereitungen und alle möglichen Weihnachtsfeiern die hektischsten des ganzen Jahres sind. Wir wünschen uns diese Zeit immer ganz anders, aber tragen selbst dazu bei, dass sie so ist, wie sie ist.“

„Auf so ein kompliziertes Verhalten muss man erst einmal kommen!“, schüttelte meine Schildkröte erneut den Kopf. „Aber würde das denn überhaupt funktionieren, wenn ihr Menschen auf einmal zur selben Zeit kürzertreten würdet? Wollen das überhaupt wirklich alle? Euch Menschen ist es doch immer so wichtig, In..., Indi...“ – die Schildkröte suchte eine Zeit lang nach dem richtigen Wort – „na, diese Individuen zu sein, die immer alles selbstbestimmt und unabhängig voneinander machen.“

„Da hast du natürlich wieder einmal recht, liebe Schildkröte. Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Kind die Sonntagsruhe und den regelmäßigen Mittagsschlaf meiner Mutter ganz doof fand, weil ich da immer still und brav sein musste. Die Sonntagsruhe war früher ja eigentlich genau so eine Ein-Tages-Siesta für alle, und das wäre heute gar nicht mehr so möglich, weil die Menschen ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben. Manche wollen den Tag faulenzen, andere Sport treiben, andere feiern, und viele arbeiten, weil sie selbst es so wollen oder vielleicht auch nur ihre Vorgesetzten.“

 

Unsere Bedürfnisse

„Das heißt, ihr Menschen wollt weiterhin schön individuell eure Zeit damit verschwenden, dass ihr sie einzusparen versucht?“, fragte die Schildkröte, und es klang fast schon ein wenig sarkastisch.

„Tatsächlich muss das jeder Mensch für sich selbst entscheiden“, antwortete ich ihr. „Aber ich weiß, dass viele Menschen mit dieser Hektik-Falle gerade im Herbst und Winter ihre Probleme haben. Und die Tatsache, dass wir immer weiter von der ach so besinnlichen Adventszeit sprechen, zeigt ja vielleicht auch, dass es eine große Sehnsucht unter vielen von uns nach einer solchen Zeit gibt. Oder zumindest nach irgendeiner anderen Form von Siesta, egal, ob es dabei um mehrere Tage oder nur Stunden oder auch nur 30 Minuten am Tag geht.

Da maße ich mir überhaupt nicht an, anderen Menschen eine konkrete Form ihrer Zeitgestaltung zu empfehlen. Ich wünsche nur uns allen, dass wir uns dessen bewusst werden können, was wir da eigentlich so jedes Jahr im Herbst und im Advent veranstalten, und zu prüfen, ob es wirklich unseren Bedürfnissen entspricht. Winterschlaf oder Siesta können ja auch einfach Bilder sein dafür, wie wir diese Zeit vor Weihnachten für uns gestalten möchten.

Vielleicht verschieben wir eine Weihnachtsfeier mit Kollegen auf die ruhigere Zeit im Januar und machen dann eine Neujahrsfeier daraus, vielleicht wollen wir tatsächlich auch an den Adventssonntagen mal eine halbe Stunde nur in die Kerze schauen oder Tee trinken, oder, wie schon lange gewünscht, eine Yogapraktik nochmal anders ausbauen – oder einfach mal das Smartphone ausmachen. Oder wir machen weiter wie bisher und beklagen uns auch nicht mehr darüber, weil wir erkannt haben, dass wir genau so leben wollen.

Wenn wir unsere Bedürfnisse mit dem Blick nach innen und Resonanz uns selbst gegenüber herausfinden und ernst nehmen, dann kann die Adventszeit wirklich zu einer besinnlichen Zeit für uns alle werden. Ich selbst habe jedenfalls durch deinen Winterschlaf, liebe Schildkröte, Lust bekommen, mich jetzt nachher mal eine halbe Stunde aufs Ohr zu legen – obwohl ich als Kind Mittagsschlaf doch immer so schrecklich fand.“

„Das war ja eine richtige Adventsansprache, die mir gut gefallen hat“, sagte die Schildkröte. „Das mit dem Mittagsschlaf klingt übrigens nach einer sehr guten Idee. Und weißt du was: Ich habe Lust, im nächsten Jahr mal auf meinen Winterschlaf zu verzichten und mir anzuschauen, was ihr Menschen in dieser Zeit da so treibt. Ich habe gehört, dass es sowieso im Winter nicht mehr so kalt ist wie früher, vielleicht brauche ich den Winterschlaf gar nicht mehr und mache dafür jeden Tag eine ausgiebigere Siesta ...“

Während ich die Schildkröte so reden hörte wurde mir auf einmal wieder bewusst, was ich während des Gespräches fast vergessen hatte: dass sie ja schlief und ich mir ihre Worte nur in meinem Kopf vorgestellt hatte. Und so sagte ich nur noch: „Im März, wenn du wieder aufgewacht bist, kann ich dich ja fragen, was du wirklich in diesem Gespräch gesagt hättest. Und bis dahin wünsche ich dir noch einen schönen weiteren Winterschlaf, liebe Schildkröte!“