Juni 2025

Unterdrücken Sie Ihre Gefühle nicht – treten Sie mit ihnen in Beziehung
„Ich will jetzt nicht traurig sein.“ „Ich darf keine Angst zeigen.“ „Ich möchte mit meinen Gefühlen niemandem zur Last fallen.“
Haben Sie sich auch schon einmal gewünscht, Ihre Gefühle besser „im Griff“ zu haben? Nicht mehr so viel Ärger zu spüren, Angst zu vermeiden, Trauer zu überspringen? Nicht mehr als „Mimose“, „Sensibelchen“ oder „Dramaqueen/Dramaking“ rüberzukommen?
Dann sind Sie durchaus kein Einzelfall. Gefühle scheinen heute vielen von uns ein lästiger Störfaktor in einem ansonsten rational getakteten Alltag zu sein. Sie kosten, so heißt es dann, Zeit und Nerven, schwächen uns, halten uns nur von vernünftigen Entscheidungen auf der Basis von Zahlen, Daten und Fakten ab.
Oder wir denken, dass sie uns daran hindern, im Alltag das zu leisten, was wir permanent als Erwartung an uns spüren: dass wir einfach funktionieren. Im Beruf, in der Familie, der Partnerschaft, dem Freundeskreis oder in Vereinen und Initiativen, denen wir uns angeschlossen haben.
Natürlich denken die meisten von uns nicht permanent so. Natürlich haben wir eigentlich ja im Vergleich zu früheren Generationen gelernt, Gefühle zuzulassen. Und doch kenne ich viele Menschen, die sich manchmal, wenn sie sich von ihren Emotionen förmlich belagert fühlen, die Frage stellen: Wären wir ohne Gefühle nicht rationaler, effizienter – und damit vielleicht auch freier?
Ich bin überzeugt, solche Gedanken kommen daher, weil wir zu wenig über unsere Gefühle wissen und uns auch zu wenig für ihr Wesen interessieren. Weil wir unterschätzen, welche kostbaren Funktionen sie erfüllen, auf welche Weise sie Richtungsweiser, Energieträger und Kraftquellen für uns sein können – und welche Folgen es hat, wenn wir sie einfach zu ignorieren und zu unterdrücken versuchen.
Lassen Sie uns heute also einen wertschätzenden Blick auf unsere Gefühle werfen – sie haben es verdient!
Total funktional
Zunächst mag vielleicht auch dem eingefleischtesten Rationalisten etwas zu denken geben, was den meisten von uns viel zu wenig bewusst ist: Jedes Gefühl hat eine Gabe, also eine Notwendigkeit, ist somit als Teil der menschlichen Natur total funktional und alles andere als ein unnützer Ballast oder emotionaler Klimbim! Ärger, Wut, Angst, Trauer, Freude – sie sind keine Fehler im System, sondern Boten für das, was uns wichtig ist, funktionale Hinweise für unser Handeln, Denken und unsere Werte.
Unser Ärger zum Beispiel, der sich schnell zur Wut steigern kann, markiert Grenzen. Er meldet sich, wenn wir eine Grenzüberschreitung erleben, etwa wenn uns in der U-Bahn jemand auf den Fuß getreten ist. Oder jemand ein Buch von uns an sich genommen hat und nicht mehr zurückbringt. Der Ärger hilft uns dann dabei, die Grenzen neu zu setzen: Das ist mein Raum, da kannst du nicht einfach so reinkommen, du kannst nicht so einfach über mich oder meine Sachen verfügen. Oder der Ärger stellt sich ein, wenn wir selbst an Grenzen stoßen, die uns bei der Verfolgung unserer Ziele und Pläne behindern, von denen wir glauben, dass sie uns zustehen.
Die Angst warnt uns vor etwas, was gefährlich sein könnte. Sie macht uns aufmerksam, lässt uns achtsam werden. Wie beispielsweise auf einer Brücke, die kein Geländer hat und nur ein Meter breit ist – wenn wir die unkonzentriert überqueren, uns dabei unterhalten oder gar mit unserem Handy daddeln, könnte es leicht sein, dass wir den einen Schritt zu weit nach rechts machen und herunterfallen. Aber die Angst warnt uns: Hier musst du achtgeben und genau schauen.
Sie ist somit kein Gegner, sondern hilft uns, Situationen realistisch einzuschätzen, statt im Autopiloten durch Gefahren zu laufen. Sie aktiviert uns vor allem sehr stark körperlich, mobilisiert unsere Energie mit der physiologischen Stressreaktion. Dabei aktiviert sie auch unsere Kampf- oder Fluchtsysteme, die uns helfen sollen, mit Situationen zurecht zu kommen, die nicht vertraut und einschätzbar und womöglich gefährlich für uns sind.
Unser seelischer Schmerz und unsere Trauer zeigen uns vor allem, was uns wertvoll ist – wenn es bedroht ist oder wenn wir es verloren haben. Sie öffnen uns den Blick für unsere Werte, für das, was in unserem Leben wirklich zählt. Zum Beispiel, wenn wir Abschied nehmen müssen von einem Menschen, der uns sehr nahe stand, oder wenn wir einen Ort, der uns Heimat gewesen ist, verlassen.
Die Trauer ist ein Hinweis darauf, dass das, was wir verlieren, eine Kostbarkeit ist, und dass wir die Wertschätzung dieser Kostbarkeit mit in das hinübernehmen, was uns nach diesem Abschied erwartet. Nach einiger Zeit kann sich die Trauer dann in Dankbarkeit verwandeln – doch erst, wenn sich das Verlustgefühl beruhigt hat.
Und die Freude? Sie ist der Kompass in Richtung unserer Lebendigkeit. Sie gibt uns Auskunft darüber, was uns nährt. Sie stellt sich ein, wenn wir etwas erleben, das uns wirklich gut tut, das uns trägt und bei dem wir wieder auftanken können.
Freude gibt uns Mut und Zuversicht, der Welt täglich aufs Neue zu begegnen. Für mich ist es im Alltagsleben etwa Freude pur, wenn ich mir morgens fünfzehn Minuten in meinem Sessel im Garten mit einem Kaffee Zeit nehme, die Katzen zu streicheln, und die ersten Sonnenstrahlen genieße. Dann ist mein Tag schon ganz anders, als wenn ich das nicht mache.
Auch in solchen kleinsten Momenten, wie auch zum Beispiel, wenn wir tief und bewusst atmen, wird der Kopf klar, unsere Brust frei, und vielleicht können wir voller Freude spüren: So, wie wir da sind, sind wir richtig. Das beeinflusst sogar unser Selbstbild positiv und wirkt sich damit auch auf unsere Entscheidungsfähigkeit aus, auf die Zuversicht, mit der wir in die Welt gehen, und auch auf unsere Fähigkeit, dabei erfolgreich zu sein, weil wir mehr an uns glauben.
Gefühle sind Richtungsweiser
Gefühle sind zudem auch Richtungsweiser, haben eine orientierende Funktion. Sie helfen uns, Entscheidungen zu treffen, sie sind das, was uns ins Handeln bringt oder eben ins Nichthandeln, je nachdem worum es geht, und beeinflussen dieses Handeln oft stärker als rationale Überlegungen.
Gefühle haben eine hohe Überzeugungskraft und sagen uns mitunter, ob etwas für uns richtig oder falsch ist. Wenn wir wirklich fühlen, dass etwas gut für uns ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir es tun.
Dabei ist es entgegen verbreiteter Sichtweisen auch nicht etwa so, dass die Gefühle „wissen“, was richtig ist. Gefühle sind im Vergleich mit dem Verstand weder minderwertig noch höherwertig, sondern sie sind einfach andere „Instanzen“ als der Verstand, weil sie motivieren, Energie bereitstellen für Anstrengung und sich darüber hinaus einfach gut anfühlen können.
Natürlich können wir uns auch vornehmen, grundsätzlich eher das zu tun, was unser Verstand uns sagt. Aber Verstand und Gefühl sind sehr starke Kräfte, die uns beide dabei helfen können, zu entscheiden.
Deswegen ist es, wenn es um größere Entscheidungen geht, sinnvoll, auch noch einmal unser Gefühl, das, was wir gerne „Bauchgefühl“ nennen, zu befragen. Wenn das Gefühl gegen das votiert, was unser Verstand bevorzugt, ist das ungünstig, weil es bedeutet, dass ein Teil von uns nicht mit „im Boot“ ist. Doch wenn das Herz dafür ist, wenn es, wie man so schön sagt, „ja sagt“, dann ist das auf jeden Fall eine Motivationssteigerung für das, was man machen möchte. Oft stellt sich etwas später ein Grund für das ungute Gefühl heraus und es wird rückblickend deutlich, warum es richtig war, die Entscheidung zu überdenken.
Gefühle zu unterdrücken kreiert ein Monster
Weil wir aber mitunter im Alltag unsere Gefühle oft eher als hinderlich für die Wahrnehmung unserer beruflichen und familiären Verpflichtungen und unserer sozialen Kontakte wahrnehmen, neigen wir immer wieder unbewusst dazu, sie zu unterdrücken. Oder auch, weil wir befürchten, aus den Abgründen des Gefühls nicht mehr herauszufinden, beziehungsweise dass es immer schlimmer wird, wenn wir es zulassen. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, dass ungeweinte Tränen, wenn sie erst einmal zu fließen beginnen – zu einem Tränenstrom werden könnten, der nie wieder endet.
Wir unterdrücken dann das, was wir in dem Moment fühlen, und das führt dazu, dass das Gefühl „einfriert“. Letzteres macht uns auf die Dauer handlungsunfähig, als befänden wir uns in einer Sackgasse oder als würden wir ständig den Fuß auf der Bremse haben und trotzdem versuchen, in Bewegung zu kommen. Je mehr wir in Summe an Gefühlen unterdrücken, desto schwieriger wird es für uns, denn Bremse und Gas passen nicht zusammen.
Die Vorstellung, Gefühle würden einfach verschwinden, wenn wir sie unterdrücken, ist ein Irrglaube. Man kann nicht einfach „nicht fühlen", sondern man fühlt etwas anderes, zum Beispiel indem die Spirale der Gedanken nicht mehr zu stoppen scheint oder indem der Körper sich verspannt anfühlt und manchmal zu schmerzen beginnt. Wie beim nächtlichen Bruxismus, dem Zähneknirschen, das fast immer eine psychische Komponente aufweist.
Die Unterdrückung macht die Gefühle also nicht kleiner, sondern verändert sie, macht sie für uns damit unkenntlich und staut sie mit der Zeit energetisch weiter auf. Damit sind sie für uns nicht mehr so leicht händelbar. Darin besteht das Paradoxe: Je mehr wir sie kontrollieren, desto unkontrollierbarer werden sie. Und irgendwann, wenn man es am wenigsten erwartet, übernehmen sie das Steuer. Sie suchen sich einen Weg, wie das gestaute Wasser vor einem Staudamm, das nach Jahren eine Rille in die Steine fräst, bis Steine wegbrechen und der Staudamm schließlich bricht, um auf der anderen Seite des Staudamms einen neuen eigenen Weg zu finden.
Mit dem Unterdrücken unserer Gefühle kreieren wir also eine Art Gefühlsmonster, dass wir aber selbst zunächst nicht kennenlernen. Denn dieses Monster lebt anfangs im Verborgenen. Es wächst jedoch mit jedem unterdrückten Impuls, jeder nicht geweinten Träne, jedem nicht gefühlten Schmerz. Und irgendwann ist es dann spürbar – es fühlt sich an, als ob es uns anfällt und die Regie übernimmt. Das ist oft der Punkt, an dem Menschen sich nur noch wie fremdgesteuert fühlen und Panik- oder Überreaktionen zeigen.
Gefühle zu unterdrücken kann übrigens auch der Beginn einer Depression sein, die ihren Namen vom lateinischen Wort „deprimere“ (das Wort „deprimiert“ kommt ebenso daher) hat, das „unterdrücken“ bedeutet. Denn eine Depression entsteht nicht, wie die meisten Menschen glauben, daraus, dass man traurig ist, sondern eben unter anderem, wenn Gefühle – in Teilen oder sogar vollständig – unterdrückt und als negativ bewertet werden. Dann kann eine Art Lähmung entstehen, die nicht nur die Gefühle und das negative Denken über sich selbst und die eigenen Zukunftserwartungen betrifft, sondern auch Auswirkungen auf den Körper hat.
Gefühle sind Energieträger
Denn jede Emotion ist mit einer körperlichen Reaktion verbunden. Freude, Ärger, Angst, Trauer – sie alle aktivieren bestimmte Prozesse im Nervensystem, in autonomen vegetativen Prozessen, wie auch in den Muskeln und im Herz-Kreislauf System. Gefühle haben somit eine energetische Komponente, sind in hohem Maße Energieträger. Freude kann schweben oder sprühend sein. Trauer ist schwer, langsam. Angst und Wut dagegen sind hochenergetisch. Diese Energie ist immer dabei, und sie gehört dazu – ob wir wollen oder nicht. Sie will fließen. Wird sie daran gehindert, staut sie sich.
Gefühle zu unterdrücken, das raubt uns also Energie. Wenn wir unsere Gefühle unbewusst oder sogar bewusst verdrängen, wird diese Energie ungerichtet, blockiert. Unterdrückte Gefühle bedeuten immer gebundene Energie.
Doch wenn wir ihnen Raum geben, sie anerkennen, ihnen Ausdruck verleihen, wird die Energie frei. Und dann stehen uns wieder Kraft, Kreativität und Klarheit zur Verfügung. Wenn wir unseren Gefühlen einen Platz geben, können wir uns wieder viel freier und fokussierter um das kümmern, was uns wirklich wichtig ist.
Ein Mensch zum Beispiel, der ständig seinen Ärger unterdrückt und sich am Arbeitsplatz „brav“ verhält, weil er gelernt hat, dass Ärger und Wut "nicht erlaubt" sind, verliert langfristig nicht nur die Verbindung zu diesem Gefühl, sondern auch zu der Energie, die es bereitstellt. Die Kraft, Grenzen zu setzen, für sich einzustehen, für etwas zu kämpfen, geht dadurch verloren oder richtet sich zum Teil nach innen – in Form von Selbstzweifeln, Angst, Antriebslosigkeit oder körperlichen Symptomen.
Ein letztes Missverständnis möchte ich in an dieser Stelle auch noch aus dem Weg räumen: Ein Gefühl zuzulassen heißt nicht, es permanent in einer spontanen Handlung zu entladen! Wenn ich wütend bin, muss ich also nicht herumschreien oder etwas kaputtmachen. Vielmehr geht es darum, mein Gefühl zu fühlen, wie es ist, und zu würdigen. Im nächsten Schritt geht es darum, einen sinnvollen Umgang damit zu finden.
Oft verändert es sich dann von selbst wieder beziehungsweise stellt die notwendigen energetischen Ressourcen für eine sinnvolle Handlung bereit. Bei der Wut könnte das zum Beispiel bedeuten: Sie teilen Ihrem Kollegen ruhig und selbstbewusst mit, dass er nicht einfach über Ihre Zeit verfügen kann, sondern Sie fragen muss, bevor er einen Termin in Ihrem Namen macht.
Ohne Gefühle keine Herzöffnung
Gefühle sind das Salz in der Suppe des Lebens. Wenn wir immer nur in einem gefühlsneutralen Modus wären, wie sollten wir denn dann so etwas wie Glück oder Erfüllung wahrnehmen können? Das wäre völlig beliebig und ist auch gar nicht möglich.
Erst die Ganzheit unserer Gefühle macht uns lebendig. Nur der gesamte Strauß unserer Gefühle ermöglicht Glück und Liebe. Je kompletter wir unsere Gefühle fühlen, desto mehr werden wir in der Lage sein, all das unser Eigen zu nennen.
Wer bestimmte Gefühle ausschließt (z. B. Angst oder Trauer), verliert auch den Zugang zu ihrer positiven Gegenseite (z. B. Erleichterung, Dankbarkeit). Erst wenn wir das ganze Spektrum zulassen, öffnet sich unser Herz. Für uns selbst, für andere, für die Welt.
Und für die Liebe: Stellen Sie sich nur einmal Liebe ohne Gefühl vor – das geht nicht. Fühlen ist eine Voraussetzung für Liebe und echte Beziehung. Ohne Gefühle keine Herzöffnung – und damit keine tiefe Verbindung.
Denn wenn wir in einer Begegnung bestimmte Gefühle ausblenden, unterdrücken oder wegpacken, dann wird es schwierig, voll und ganz in eine gemeinsame Schwingung zu kommen. Dann können wir uns nicht so vollständig einbringen, wie wenn uns alle Gefühle zur Verfügung stehen. Nur so haben wir alle Facetten von uns selbst zur Verfügung. In der Liebe verspricht das die allerschönste Verbindung – das ist vergleichbar dem Unterschied zwischen einem ganzen Orchester und einem einzelnen Instrument, das allein spielt, wie etwa die Triangel oder eine Flöte.
Jedes Gefühl ist außerdem ein Schatz, der auch etwas Schöpferisches, Kreatives in sich trägt, wenn wir es ausdrücken. Viele Künstler sind dafür bekannt, dass sie sehr emotionale Menschen sind, die ihren Emotionen auf schöpferische Weise Ausdruck verleihen. Aber auch ein Kind, das aus einem freudigen Gefühl heraus spontan in einer Pfütze einen improvisierten Matschtanz macht oder aus einem traurigen Gefühl heraus mit Buntstiften ein entsprechendes Bild malt, ist ein Beispiel dafür.
Ich selbst hatte, als meine Mutter vor einiger Zeit gestorben war, angesichts all der Dinge, die zu regeln und zu organisieren waren, eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, mich gar nicht mehr richtig in meinem Körper zu spüren und auch nicht traurig sein zu können. Im Gespräch mit meiner Supervisorin kamen wir dann darauf, dass ich eigentlich mehr privaten Raum bräuchte, in dem meine Traurigkeit einen guten Platz hätte, und mir kam dabei der der Ausdruck „Zärtlichkeit für die Traurigkeit“ in den Sinn.
Spontan äußerte dazu meine Supervisorin, die meine Liebe zur Musik kennt, das könnte doch schon die erste Zeile eines Liedes sein. Sie hatte recht mit ihrer Idee, das fühlte ich schon in diesem Augenblick, auch wenn ich noch zögerte. Doch einige Wochen später begann ich in einer ruhigen Stunde, meinem Gefühl intensiver zuzuhören. Ich lauschte darauf, was es mir geben würde, und so schrieb ich einen Text und nannte ihn „mein kleines Lied für die Zärtlichkeit“. So hatte ich einen Platz für mein Gefühl gefunden, für dieses Gefühl, das ich vorher nicht richtig in meinem Alltag untergebracht hatte.
Der Unterschied zwischen Kontrolle und Beziehung
Wenn es also nicht sinnvoll und gut ist, unsere Gefühle zu unterdrücken – bedeutet das, dass wir uns ihnen völlig überlassen, dass wir nur noch auf sie statt auf die Vernunft setzen sollen?
Nein, das bedeutet es natürlich nicht. Mir geht es in diesem Pladoyer fürs Fühlen darum, dass wir ALLE unsere Gefühle wahrnehmen, ihre Funktion, die Energie, die in ihnen steckt, dass wir sie ernst nehmen – ohne in ihnen zu versinken.
Nun mögen Sie vielleicht denken: Wenn ich ein starkes Gefühl spüre, und ich habe Angst, davon überrollt zu werden, wie kann ich mich dennoch darauf einlassen? In diesem Fall empfehle ich Ihnen, sich für einige Minuten ungestört hinzusetzen, bewusst zu atmen und das Gefühl innerlich anzuschauen, genauso, wie man einen lieben Freund oder eine liebe Freundin anschauen würde, und dann das Gefühl zu fühlen.
Sie brauchen dabei keine Angst vor einer zu starken Intensität des Gefühls haben, weil alle Gefühle die Eigenschaft haben, dass sie zwar, wenn sie „über uns kommen“, zunächst intensiver, stärker werden, aber dann keineswegs dauerhaft in derselben Intensität bleiben.
Alle Gefühle flachen nach einiger Zeit von selbst wieder ab und verändern sich. Das ist ähnlich wie bei der Akupressur, wo auf bestimmte Schmerzpunkte gedrückt wird, die dann nach einiger Zeit nicht mehr so stark schmerzen.
Ich vergleiche den Umgang mit den Gefühlen auch gerne mit dem Umgang mit meinen beiden Katzen. So wenig, wie ich meine Gefühle dauerhaft kontrollieren kann, so wenig kann ich die beiden Katzendamen in ihrem Verhalten mir gegenüber kontrollieren – wenn Sie selbst Katzen haben, wissen Sie jetzt bestimmt, was ich damit meine.
Aber ich kann zu meinen Katzen in eine freundlich-respektvolle Beziehung treten, denn ich weiß, was sie mögen, wie ich sie am besten einlade, und so erahne ich meistens, wie sie reagieren werden. Darauf gehe ich ein, ohne dass ich mir deswegen ständig von den beiden auf der Nase herumtanzen lasse.
Genauso ist das mit Gefühlen. Der Unterschied zwischen Kontrolle und Beziehung ist entscheidend. Beziehung ist auf Augenhöhe, Kontrolle nicht. Wer kontrolliert, will unterdrücken, fernhalten, vermeiden. Wer in Beziehung tritt, lässt zu, beobachtet, versteht, entscheidet bewusst, was damit geschehen soll.
Das Ziel für den Umgang mit unseren Gefühlen ist also keinesfalls eine emotionale Selbstoptimierung. Sondern eine emotionale Selbstbegegnung. Gefühle sind eben keine Schwäche, kein Ballast, kein emotionales "Gedöns". Sie sind hochkomplexe, funktionale, weise BotschafterInnen unseres Inneren. Sie zeigen uns, wer wir sind, was wir brauchen, (nicht) mögen und was uns wichtig ist. Sie geben uns Energie, Richtung, Tiefe und Beziehung.
Wenn wir lernen, mit ihnen in eine wohlwollende Verbindung zu treten, gewinnen wir einen vollständigeren Zugang zu uns selbst. Nur wenn wir uns trauen, ALLES zu fühlen, können wir unser Leben ganz erfahren.