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Vom Tempo der Menschen und der Schildkröten

Endlich ist es wieder Frühling, und ich erfreue mich, wie Sie bestimmt auch, an den unübersehbaren Zeichen für das erneute Aufwachen der Natur, die mir ein Blick in den Garten verrät.

Als ich vor ein paar Tagen an der geöffneten Terrassentür stand, die laue Frühlingsluft ins Haus ziehen ließ und mich an den ersten Schneeglöckchen erfreute, näherte sich auf einmal quer über die Wiese langsam und gemächlich, wie ich es nicht anders von ihr kenne, meine Schildkröte.

Seit Oktober hatte ich sie nicht mehr gesehen, und im November hatte ich auf der Suche nach ihr im Keller vor einer verschlossenen Tür einen Zettel gefunden, auf dem auf in etwas krakeliger Schrift geschrieben stand: „Bitte nicht stören! Ich halte Winterschlaf-Siesta von Oktober bis März. Eine gute Zeit, deine Schildkröte.“

Weil sie also für eines der Gespräche, die mir immer guttun, indem sie die komplizierte Welt viel einfacher erscheinen lassen, nicht zur Verfügung stand, hatte ich in meinem Kopf ein Gespräch mit der schlafenden Schildkröte geführt – was mir leichtfiel, weil ich sie ja schon etliche Jahre kenne und sie und ihre Art zu fragen und zu antworten gut in meinem Kopf habe. Es war ein imaginäres Gespräch, eigentlich ein Selbstgespräch – und doch war ich das Gefühl nicht losgeworden, die Schildkröte habe tatsächlich zu mir gesprochen.

Ich hatte mir vorgenommen, der Schildkröte, wenn sie wieder aufgewacht sei, von dem Gespräch in meinem Kopf zu erzählen und sie zu fragen, was sie in diesem Gespräch wohl gesagt hätte, wenn es tatsächlich stattgefunden hätte. Dazu wollte ich nun, da sie sich mir gemächlich näherte, schon ansetzen, aber sie kam mir zuvor, als sie vor mir stehenblieb und murmelte: „Hallo Claudia, da bin ich wieder. Ich muss dir etwas erzählen: Denn ich habe während meines Winterschlafes geträumt, dass ich ein Gespräch mit dir hatte ...“

 

Stress hat man nicht

Ich dachte im ersten Moment, ich hätte mich verhört – was nicht so ungewöhnlich wäre, weil die Schildkröte immer sehr leise spricht –, deswegen fragte ich ungläubig noch einmal nach: „Was hast du?“

„Ich habe während meines Winterschlafes geträumt, dass ich ein Gespräch mit dir hatte“, wiederholte die Schildkröte darauf unerschütterlich und ein winziges bisschen lauter als vorher. „Ich habe dich in diesem Traum gesucht und ungewöhnlicherweise auf dem Sofa bei einem Mittagsschlaf gefunden.“

„Du hast ein Gespräch mit mir geführt, während ich schlief?“, fragte ich verblüfft nach. „Das ist ja lustig, denn ich habe meinerseits mit dir ...“

„Du bist“, unterbrach mich die Schildkröte, so erfüllt schien sie von dem, was sie mir erzählen wollte, „plötzlich aufgewacht, als ich bei dir stand, und dann hast du mir erzählt, dass du dich ab jetzt öfter mittags auf ein halbes Stündchen hinlegen willst. Ich fand das gut, weil ich dich zuletzt im Herbst immer etwas erschöpft erlebt hatte. Ihr Menschen gönnt euch ohnehin zu wenige Ruhepausen!“

Nun war ich endgültig verwirrt. „Das ist ja interessant“, erwiderte ich, „denn tatsächlich habe mir damals vorgenommen, so einen Mittagsschlaf in Zukunft mal häufiger zu machen. Allerdings hat der gute Vorsatz nicht lange angehalten, meistens passt es nicht in den Tagesablauf, irgendwie werde ich damit einfach nicht richtig warm.“

„Bist du denn immer noch so abgehetzt wie im Herbst?“, fragte die Schildkröte zurück. „Wenn du das Bedürfnis nach häufigerem Mittagsschlaf empfunden hast, muss es doch einen Grund dafür geben. Gibt es den nicht mehr?

„Na ja“, erzählte ich ihr, „ich war jetzt einige Wochen in einem wunderschönen Urlaub, da habe ich mich schon etwas erholen können. Aber zurück im Alltag hat mich der Stress sehr schnell wieder gepackt.“

„Stress“, knurrte die Schildkröte etwas ungnädig, „das ist wieder so eine eurer merkwürdigen Menschenerfindungen. So ganz genau habe ich noch nie verstanden, was ihr damit meint. Aber aus dem, was ich darüber gehört habe, weiß ich zumindest: Diesen sogenannten Stress hat man nicht, sondern man macht ihn sich. Du selbst hast es in der Hand, ob du ihn empfindest oder nicht.“

„Ja, liebe Schildkröte“, nickte ich, „das weiß ich an sich auch, und trotzdem passiert es mir immer wieder, dass ich mich gestresst und gehetzt fühle und es so empfinde, als hätte ich zu wenig Zeit. Du kennst dieses Gefühl wohl überhaupt nicht?“

Ich sah, wie die Schildkröte intensiv nachdachte und in sich hineinspürte, doch dann schüttelte sie langsam den Kopf und meinte: „Nein, das kenne ich nicht. Ich gehe grundsätzlich alles viel langsamer an als ihr Menschen, dadurch behalte ich immer den Überblick. Außerdem ist euer Stress ja ein altes Reaktionsmuster aus Zeiten, als ihr auf der Hut sein musstet vor gefährlichen Raubtieren. Und wir Schildkröten haben nun einmal nur sehr wenige natürliche Feinde und können uns, wenn es doch mal gefährlich werden sollte, in unseren Panzer zurückziehen. Das macht uns so gelassen.“

 

Ruhen in sich selbst

„Solch einen Panzer“, lachte ich, „ja, den hätte ich auch gerne. In den würde ich mich dann ab und zu auch einmal zurückziehen, um mich von der Hektik draußen fernzuhalten.“

„So einen festen Panzer, wie ich einen habe“, kicherte die Schildkröte leise, „ich weiß nicht, ob der dir so gut stehen würde wie mir. Den benötigst du aber auch gar nicht, denn echte Fressfeinde habt ihr Menschen ja kaum noch. Euer Hauptfeind ist eure eigene Lebensweise, das ständige Funktionieren, wie du das immer nennst und von dem du mir schon viel erzählt hast, eure Maßlosigkeit, euer Perfektionismus. Und dagegen braucht es keinen Panzer, aber etwas in gewisser Weise ganz Ähnliches, das euch nicht von außen, sondern von innen schützt. Bei euch Menschen gibt es doch die Redensart vom ‚in sich selbst ruhen‘. Wenn du das hinbekommst, ist das fast so gut für dich wie für mich mein Panzer.“

„Meine liebe Schildkröte“, unterbrach ich sie verwundert, „so lange Vorträge habe ich ja von dir noch nie gehört. Wie kommt es, dass du heute so gesprächig bist?“

„Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich direkt nach der Winterruhe einfach besonders ausgeschlafen bin“, gab die Schildkröte zurück, und ich hatte einen Moment den Eindruck, als lächele sie dabei ein ganz wenig in sich hinein. „Heute ist mir einfach danach.“

„Es ist jedenfalls schön, auf diese Weise mal etwas mehr von dir zu hören“, freute ich mich. „Was du übrigens über das ‚in sich selbst ruhen‘ gesagt hast, das gefällt mir“, nahm ich den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf. „Dafür müssen wir aber wissen, was in uns eigentlich los ist. Ich verwende in diesem Zusammenhang immer das Bild von einem Scheinwerfer: Viele Menschen vermeiden nämlich mehr oder weniger bewusst eine intensivere Beschäftigung mit sich selbst und den für sie wichtigen Themen. Sie sind mehr nach außen orientiert. Als trügen sie einen fest eingerasteten Scheinwerfer, den sie immer nur auf die Umwelt und auf die Reaktionen sowie die mitgedachten Urteile Anderer richten, aber nie wahrnehmend auf und in sich selbst. Als sei dieser Schweinwerfer in der Außenperspektive fixiert und könne nicht nach innen gerichtet werden.“

„Kein Wunder, wenn ihr dann nicht in euch selbst ruhen könnt, wenn ihr über euer Inneres gar nicht Bescheid wisst ...“, brummte die Schildkröte kopfschüttelnd.

„Ja“, erwiderte ich schnell, „da hast du recht, liebe Schildkröte. Dabei können wir diesen Scheinwerfer eigentlich immer wieder schwenken zwischen Beobachten und Erleben, Aufnehmen und Einflechten. Denn beides steht in Beziehung, jedes wirkt auf das andere zurück. Im Zusammenspiel äußerer und innerer Wahrnehmung verändert sich unser Leben nahezu täglich ein kleines bisschen, denn wir gestalten unsere Welt mit jeder Erfahrung neu. Das ist dann, wenn wir es so machen, tatsächlich ähnlich wie bei euch Schildkröten: Ihr zieht euch ab und zu unter euren Panzer zurück, kommt aber immer wieder heraus in die Welt. Wenn wir Menschen dieses Schwenken zwischen Außen- und Innensicht mehr beherzigen würden, hätten wir vielleicht auch mehr von eurer Ruhe und Gelassenheit.“

„Ich finde schön, wenn wir Schildkröten euch dabei ein Beispiel sein können“, nickte die Schildkröte. „Das Wichtigste ist, dass ihr ein Gefühl dafür entwickelt, was euch guttut und was nicht. Ich habe immer den Eindruck, dass die meisten Menschen davon gar keine Ahnung haben. Wenn ihr eure Bedürfnisse kennt und achtet, seid ihr nicht so anfällig für die Hektik und den Druck, die von außen auf euch einwirken. Und zugleich könnt ihr dann, verankert in euch selbst wie ich in meinen Panzer, offen und neugierig anderen Menschen und überhaupt allen Lebewesen und der ganzen Natur um euch herum begegnen, anstatt sie nur als Nutz-Objekt zu betrachten.“

 

Hier und jetzt

Die Schildkröte hielt kurz inne und schien nachzudenken. Dann fuhr sie fort: „Und das Tempo, das ihr dabei an den Tag legt, das sollte euer Tempo und nicht das der anderen sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass jede und jeder von euch Menschen sein eigenes individuelles Tempo hat, und das gilt es zu entdecken und zu beachten. Es muss ja nicht unser Schildkrötentempo sein“, kicherte die Schildkröte wieder leise – sie schien wirklich sehr ausgeruht und munter zu sein.

Ich musste auch lachen und sagte: „Wenn ich dein Tempo hätte, würde ich vielleicht auch so alt, wir ihr Schildkröten werden könnt. Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass eine Erklärung für eure lange Lebensdauer euer äußerst langsamer Stoffwechsel ist. Der wird vom Herzschlag beeinflusst. Je rasanter das Herz schlägt, desto höher ist auch der Stoffwechsel und dadurch altert das Tier schneller. Ihr Schildkröten habt durch eure Art einen vergleichbar ruhigen Puls. Weißt du eigentlich, dass es auf den Seychellen einen Artgenossen von dir gibt, der 192 Jahre alt ist? Wie alt bist du denn eigentlich?“

Die Schildkröte schüttelte den Kopf: „Das weiß ich nicht, und ich wusste auch nichts von dieser besonders alten Schildkröte. Ich finde solche Dinge auch nicht so wichtig. Ich lebe jetzt, darauf kommt es an. Solche Dinge wie Lebensjahre zu zählen oder zu spekulieren, wie alt ihr wohl werden könnt, ist etwas für euch Menschen – obwohl euch das ständige Schauen in die Vergangenheit und in die Zukunft nicht guttut. Etwas mehr Gegenwart würde euch auch nicht schaden.“

„Ich werde mir das zu Herzen nehmen, liebe Schildkröte“, sagte ich. „Was übrigens den Mittagsschlaf betrifft: Ich werde wirklich noch einmal genauer in mich hineinhorchen, ob es wirklich das ist, was ich brauche. Manchmal habe ich schon halb im Scherz gedacht, dass mir auch ein kleiner Winterschlaf guttäte.“

„Ich weiß es nicht“, meinte die Schildkröte. „Das kannst nur du herausfinden. Wenn du in deinem eigenen individuellen Tempo lebst, brauchst du vielleicht gar kein Mittagsschläfchen und auch keinen Winterschlaf. Wer weiß ...“

„Worüber“, platzte es aus mir heraus, denn diese Frage musste ich unbedingt noch loswerden, „haben wir beide denn eigentlich in deinem Traum gesprochen?“

„Ach“, schüttelte die Schildkröte bedächtig ihren Kopf,  „das ist jetzt gar nicht mehr so wichtig, denn nun haben wir ja direkt miteinander gesprochen statt nur in meinem Kopf, und das ist viel schöner und viel wichtiger. Wichtiger als die Vergangenheit, zumal eine nur erdachte, ist doch, was hier und jetzt gerade passiert zwischen uns. Aber sag mal“, die Schildkröte zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach, „ich habe dich am Anfang ein wenig unachtsam unterbrochen, als du mir etwas erzählen wolltest. Worum ging es denn da?“

„Ich, liebe Schildkröte“, antwortete ich und freute mich, dass sie sich daran noch erinnerte, „habe dich im November gesucht, weil ich ganz vergessen hatte, dass du Winterschlaf hältst. Mir war so sehr nach einem Gespräch mit dir, und das ging nun nicht, und da habe ich in meinem Kopf ein Gespräch mit dir geführt – so ähnlich wie es bei dir in deinem Traum war. Und ich wollte dir, wenn du wieder aufgewacht bist, von dem Gespräch erzählen und dich fragen, was du in diesem Gespräch tatsächlich gesagt hättest, wenn du nicht im Winterschlaf gewesen wärest.“ Ich zögerte kurz. „Aber nun denke ich, du hast recht: Viel wichtiger ist unser reales Gespräch im Hier und Jetzt.“

„Es freut mich, dass du das auch so siehst“, nickte die Schildkröte.

„Eins würde ich ja doch noch gerne von dir wissen“, fiel mir noch ein. „In dem Gespräch mit dir in meinem Kopf hast du erzählt, du hättest Lust, im nächsten Jahr mal auf deinen Winterschlaf zu verzichten und dir anzuschauen, was wir Menschen in dieser Zeit da so treiben. Ist das wirklich so?“

„Ich glaube“, knurrte die Schildkröte etwas widerwillig, „das ist eher wieder so ein typischer Menschengedanke, jetzt schon zu überlegen, was wohl im nächsten Oktober sein wird. Nein, darüber verschwende ich keinen Gedanken. Es ist zwar wohl so, dass ihr Menschen durch euren rücksichtslosen Umgang mit eurer Umwelt dafür sorgt, dass es hier im Winter nicht mehr so kalt ist wie früher und wir Schildkröten den Winterschlaf gar nicht mehr so benötigen wie bisher. Aber ich lasse das auf mich zukommen. Im Gegensatz zu euch Menschen kann ich ohnehin nichts tun, um diese Entwicklung aufzuhalten. Was ich aber weiß“, setzte die Schildkröte an, und ich spürte, dass sie das Gespräch nun beenden würde, „ist, dass ich jetzt Lust auf ein kleines Päuschen habe. Danke für das schöne Gespräch, bis bald!“

Mit diesen Worten hatte die Schildkröte kehrtgemacht und trottete zurück in den Garten.

„Ich danke dir, liebe Schildkröte“, rief ich ihr nach. Und ich merkte, dass mir heute nicht nach einem Mittagsschläfchen war, sondern nach einem ausgiebigen Frühlingsspaziergang.